Spex

Ende 1991 kam ich zu der Zeitschrift „Spex“, die ein eigenartiges Gewächs war, eines, das sicher so nur hat in Deutschland entstehen können. In einem Land, in dem Popmusik, Comics, Kriminalromane, Serien und andere Produkte der populären Kultur als etwas Niederes betrachtet wurden, entstand eben ein Magazin, in dem man diese kulturellen Produkte auf eine ebenso ernsthafte Weise betrachtete wie das bürgerliche Publikum seine geliebte E-Kultur. Gleichzeitig war das Magazin ein Kind der 1980er Jahre Subkultur – das Ethos gründete sich auf die Rolle der Musik für die Jugendrevolten und bestand aus einer Mischung von Linkssein, Do-it-yourself, Undergroundnetzwerken und alternativen Übermittlungskanälen. Ich hab meine erste Ausgabe erst spät gekauft, vermutlich 1987. Es war ein Jahresendheft mit einer Liste der besten 50 Platten des Jahres, und ich kannte so gut wie keine – und das, obwohl ich mich total für Musik interessierte. Insofern verbrachte ich die Jahre danach neben meinem Psychologiestudium (oft eher öde) mit Recherchen in Sachen Pop-Kultur. Bei Spex Autor und später Redakteur zu werden, bedeutete in einen Zusammenhang von extrem versierten und schlauen Leuten zu kommen, die es in der Häufung vielleicht nur selten gegeben hat. Allein mitzuhalten, war schon eine erhebliche tägliche Herausforderung, aber auch eine, die sich sehr gelohnt hat. Ich war immer Autodidakt, wie so viele Leute, die aus kleineren Städten gekommen sind, aber ich war auch einer, der immer an Learning-by-doing geglaubt hat, und Spex hat genau dafür die Möglichkeit eröffnet.
Aber das Großartigste war die totale Abwesenheit von Jargon.
Wir befassten uns mit den Stimmen derer, die sich musikalisch artikulierten, weil sie politisch keine Stimme hatten, und wir kannten keinen Jargon, weil wir in keinem aufwachsen konnten. Musik war ein alternatives Medium, in der sich Personen ausdrücken konnten, die nicht am sehr voraussetzungsvollen „Diskurs“ teilnehmen konnten – oder wollten. Wir waren keine Journalist:innen, weil die ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln des Journalismus – Unparteilichkeit und „Objektivität“ – falsch erschienen für einen Zusammenhang, mit dem wir uns auch identifizierten. Parteilichkeit (über die Musik) bedeutete, über die Musik mit anderen nach Erkenntnis und richtigem Leben zu streben. Der Marxismus war auch deswegen interessant, weil er sich theoretisch an der Praxis, den Subjekten und der Dialektik orientierte, und die ausgesprochene Parteilichkeit war am Ende ausgewogener als die unausgesprochene Parteilichkeit, die sich als „Objektivität“ nur ausgab. Und natürlich haben wir alle Musik über alles geliebt, und niemand hat vermutlich je danach das Interesse daran verloren.
Zweifellos war „Spex“ ein ziemlich männlicher und authochthoner Zusammenhang, was von heute leicht zu kritisieren oder gar zu verdammen ist. Doch in den 1990er Jahren begannen auch die Diskussionen genau darüber – in „Spex“ selbst. Diese Kämpfe halten bis heute an. Ende der 1990er Jahre löste sich „Spex“ aus der alten Gesellschaftsstruktur, in der die Zeitschrift den Leuten gehörte, die sie gemacht hatten oder aktuell machten. Danach war es nie wieder das Gleiche. Als die Medien begannen, sich unentwegt mit sich selbst zu befassen, wurde „Spex“ zu einem legendären, aber eben zombifizierten Kultobjekt, über das immer mal wieder eine Runde gesprochen werden konnte. Ich hatte bis auf wenige Ausnahmen nie Lust, mich daran zu beteiligen – das war wie die Nacht der reitenden Leichen. Irgendwann, teilweise Dekaden später, als ich längst primär an anderen Dingen arbeitete, war ich es wirklich leid zu hören, dass Leute immer noch glaubten, ich sei bei „Spex“.