Wohlfahrtsausschüsse

Ich glaube nicht, dass die klaustrophobische Atmosphäre am Anfang der 1990er Jahre heute noch nachvollziehbar ist, ebensowenig wie die Gefühle von Fassungslosigkeit und Bedrohung. Die rassistischen Anschläge, die heute auf vier Städtenamen zusammengeschrumpft sind (Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen), hatten damals eine alltägliche Qualität, die regelrechten Terror ausübte. Dazu kam eine Politik, die die Anschläge seit den 1980er Jahren mit ihren Bedrohungszenarien befördert hatte, um Migration zu verhindern. Und eine Mediendiskussion, die präzise rassistische Gewalt auf Jugendprobleme abschob oder zu einer quasi-anthropologischen Reaktion auf zu viele „Fremde“ erklärte. 1993 wurde die Gewalt auf der Straße dann genutzt, um den sogenannten Asylkompromiss zu beschließen: Deutschland wurde mit einem Cordon „sicherer Drittstaaten“ umgeben, in die Asylsuchende zurückgeschickt werden konnten.

In dieser Atmosphäre gründeten sich in verschiedenen Städten die sogenannten Wohlfahrtsausschüsse zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels. Der Name verwies ironisch auf die französische Revolution, aber auch auf ein gemeinsames Projekt: Was sich so „Linke“ nannte in Deutschland, war damals schon total fraktioniert. Im Kölner Wohlfahrtsausschuss, wo ich von Beginn an dabei war, fanden sich viele Leute von den Zeitschriften „StadtRevue“, „Texte zur Kunst“ und „Spex“, aber auch aus der autonomen Linken, was durchaus ein Novum war, denn die „politisch“ und die „kulturell“ orientierte Linke hatten zuvor fast vollständig den Kontakt verloren. In Hamburg wurde 1992 eine Tour mit Bands wie Stereo Total, Goldene Zitronen, Absolute Beginner, Fresh Family oder Blumfeld in die neuen Bundesländer organisiert, um west- und ostlinke Gruppen miteinander ins Gespräch zu bringen. In Köln fand im Sommer 1993 ein Kongress statt, wo die Redner:innen sich mit einem Themenspektrum befassten, das auch verdeutlicht, wie wenig sich die grundsätzlichen Problemlagen in den letzten 30 Jahren eigentlich verändert haben: Die Entlastung der „Mitte“ vom Rassismus, der Einfluss von neurechten Gedanken, „Lebensschutz“ und stille Eugenik und natürlich die Frage des Kapitalismus im allgemeinen. In vielen Beiträgen wurde darauf hingewiesen, dass linke Politik einen Mangel an Theorie hat. Ich würde nicht sagen, dass da eine Verbesserung eingetreten ist.

Von heute aus gesehen mag einiges auch veraltet oder naiv wirken, aber das gehört schlicht und ergreifend dazu. Damals war ich 26 – manche andere noch jünger.

Die Wohlfahrtsausschüsse sind u.a. hier dokumentiert:

Transkript eines Films von Stephan Dillemuth:

societyofcontrol.com/outof/down/sd-de.pdf

Wohlfahrtsausschüsse (Hrsg.): Etwas Besseres als die Nation. Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels, Berlin: Edition ID-Archiv 1994.