

Ende der 1990er Jahre war „Spex“ für mich endgültig vorbei, auch als Autor, aber natürlich verschwindet die Liebe zur Musik nicht. Das Musikgeschäft war Anfang der 2000er verwildert und auf den Hund gekommen, von „Independent“ nichts mehr übrig, eine ernstzunehmende Popmusikkritik gab es ebenfalls kaum noch (heute noch schlimmer geworden). Mit Dubstep hatte sich die letzte identifizierbare Jugendkultur verabschiedet. Ich hatte begonnen, mich für Folklore zu interessieren, eine Wendung zu den „Ursprüngen“ sozusagen, um den Sinn von Musik für mich selbst zu erneuern. Dieses Interesse fiel zusammen mit einer Phase, in der im Rahmen der Migration das Folkloristische allerorten geradezu verachtet wurde – von Standpunkt der „Integration“ schien es nur noch zu stören, und vom Standpunkt einer vulgär verstandenen „Hybridität“ wirkte es rückwärtsgewandt.
Allerdings hatten staatliche Akeure die Folklore der Einwander:innen in den Jahrzehnten zuvor aktiv gefördert: Die „eigene Kultur“ sollte ja erhalten bleiben, um die spätere Rückkehr ins „Heimatland“ zu vereinfachen. Nun gibt es nichts, was aktiv gemacht wird, und sich im Laufe des Machens nicht verändert. Und so war es auch mit der eingewanderten Folklore. Das Singen in der ersten Generation hatte ein imaginäres Heimatland erschaffen, das mit der Realität vor Ort nichts mehr zu tun hatte, und die Kinder der Migrant:innen waren mit diesem imaginären Heimatland aufgewachsen, in einem sehr besonderen Zwischenreich.
Meine Idee war, die Folklore in der Bundesrepublik zu sammeln, und ich dachte anfänglich daran, Eingewanderte der ersten Generation selbst zum Singen auf einer Bühne zu bewegen. Die so gesammelten Stücke sollten dann remixt werden, bestenfalls von elektronischen Musiker:innen, die einen Bezug zur Folklore hatten, um den Raum abzubilden, in dem Kinder der Eingewanderten durch die Musik die musikalische imaginäre Heimat weiter ausgebaut hatten. Ich ging mit der Idee hausieren und traf dann erfreulicherweise Jochen Kühling, der zuvor das Label „Plakmusik“ gemacht hatte und gerade zu neuen Ufern aufbrechen wollte. Er war begeistert, und so machten wir uns an die Arbeit. „Teilnahmekriterium“ war: die jeweilige Musik musste aktuell in Berlin zu finden sein und aus einem Land stammen, mit dem die Bundesrepublik oder die DDR einen Anwerbevertrag hatten. Durchweg Sänger und Sängerinnen aus der ersten Generation zu finden, erwies sich schnell als unmöglicher (und unbezahlbarer) Aufwand. Also hat Jochen sich auf einen verschlungenen Weg gemacht durch Chorverzeichnisse, Vereinslokale, Restaurants und „ethnische“ Kneipen, um Leute zu finden, die Folklore machten.
Die Vielfalt war atemberaubend: Ältere und jüngere Leute, alle möglichen Formen regionaler Folklore, die unterschiedlichsten Kontexte – die eingewanderte Folklore war nicht nur lebendig, sondern die Protagonist:innen hatten die Musik erforscht und weiterentwickelt. Der zweite Teil des Projekts bestand darin, die aufgenommenen Lieder an DJs zur Bearbeitung zu übergeben, an so unterschiedliche Musiker wie Natalie Beridze (tba), Mark Ernestus, Gudrun Gut, Murat Tepeli, Eric D. Clark, Thomas Mahmoud, Khan, Guido Möbius, Symbiz Sound und Yvonne Cornelius (Niobe). Zu jener Zeit gab es in der Popmusik ein großes Interesse für musikalische Erinnerung, für die Heimsuchungen der Vergangenheit, und wir wollten, daran anlehnend und darauf aufbauend, eine „Ghost Music“ der Migration initiieren.
Die Premiere von „Heimatlieder“ fand in der Komischen Oper in Berlin statt, und der Saal war vollbesetzt. Das Projekt war wahrscheinlich eins der Nachhaltigsten, das der Haupstadtkulturfonds in Berlin je gefördert hat: Der ganze Tross von „Heimatlieder“ – ingesamt waren mehr als 200 Musiker:innen involviert – fuhr 10 Jahre lang zu über 30 gemeinsamen Auftritten in Städten wie Hamburg, Dresden, Köln etc. Trotz dieses großen Erfolges würde ich das Projekt im Nachhinein nicht als Erfolg im Sinne meiner Intention sehen. Denn zum einen ging es darum zu sagen: Folklore ist Kunst, nicht etwa wie in Deutschland oft angenommen, eine niedrigere, quasi prähistorische Form von Kultur. Und zum anderen sollte klar werden, dass die eingewanderte Folklore nun zu Deutschland gehört, dass diese „Heimatlieder“ zwar keine „einheimischen“ Lieder sind, aber solche „aus Deutschland“. Das zu vermitteln, ist eben nicht gelungen. Oft genug wurden wir eingeladen, weil der jeweilige öffentlich geförderte Veranstaltungsort ein Albi in Sachen Vielfalt wollte, und es war kaum möglich, dem „multikulturellen“ Blick zu entrinnen, der die kulinarische Seite des „Fremden“ genoss. Zugleich war es auch schwierig, das Projekt kommerziell zu vermarkten, weil die Booker es schlicht nicht verstanden haben.
Dazu kam, dass ab 2015 im Rahmen der „Flüchtlingskrise“ die Idee an vielen Kultureinrichtungen kopiert wurde, an denen dann syrische Chöre u.ä. entstanden, die dann irgendwann von einem auf sich selbst fixierten Betrieb wieder vergessen wurden. Ich hab mich danach langsam von diesem Projekt getrennt, nach 10 Jahren haben wir die „Heimatlieder“ verabschiedet. Aber so schwer es auch sein mag, der Falle des „Multikulturellen“ zu entgehen, die Lieder, die gemeinsamen Erlebnisse, die Gänsehaut bei jedem Auftritt waren das ganze Engagement wert!
Es war großartig, eine der besten Erfahrungen meines Lebens.
Kann man auch lesen und hören:
heimatliederausdeutschland.de
norient.com/stories/heimatlieder-aus-deutschland/
Heimatabend – Heimatlieder aus Deutschland, 2013